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22. Juni 2020

Sokrates

Kurzgeschichte von Marlis David

Der Wecker klingelte an diesem Tag schon um vier Uhr in der Frühe. Vorsichtshalber hatte Carla an der Rezeption einen Weckruf bestellt, auf keinen Fall durfte sie verschlafen. Der Morgen war frisch und die Luft noch unverbraucht. Herrlicher Blütenduft stieg ihr in die Nase, als sie tief durchatmete, bevor sie hastig den Weg zum Bus einschlug. Vier Personen aus ihrem Hotel standen schon an der Haltestelle. Sie unterhielten sich in russischer Sprache, gestikulierten lebhaft und laut. Der Bus kam um 5.20 Uhr, da das Schiff in Heraklion pünktlich ablegen sollte.

Vier Stunden waren schnell vergangen und für genügend Abwechslung war auf der Schiffsreise gesorgt. Die Durchsage, dass die Insel Santorin in Sichtweite sei, ließ Carla elektrisiert aufspringen und nach vorne auf die Aussichtsplattform drängen. Wie auf einer Perlenschnur waren die weißen Häuser hoch oben auf den Felsklippen der gesamten Insel aufgereiht. Ein fantastisches Fotomotiv. Je näher das Schiff kam, erkannte man den Fahrstuhl und die in den Fels gehauenen Treppenstufen, auf denen Esel die Besucher steil bergan transportierten. Carla entschied sich für den Fahrstuhl, aber nur wegen der Zeitersparnis, denn oben angekommen musste man noch mit dem Bus weiterfahren.

Schon an der Anlegestelle der Insel Santorin bemerkte Carla einen kleinen, struppigen, grau-schwarzen Hund, der ihre abgestellte Reisetasche, die sie für einen kleinen Moment aus den Augen verloren hatte, vollkommen in Besitz genommen hatte. Lang ausgestreckt lag er direkt auf der Tasche, so als wäre sie sein Eigentum und er müsste sie bewachen.

Vorsichtig bückte sie sich und sprach ihn mit leiser Stimme an: „Na, mein kleiner Wächter, hast du schön aufgepasst?“ Er sah sie mit großen, klugen Augen an und wedelte freudig mit dem Schwanz. Die freundliche Geste gefiel Carla sofort. Sie fasste Mut und streichelte ihm den Kopf. Von weitem sah sie den Bus kommen, ergriff schnell ihre Tasche, eilte auf die geöffnete Tür zu, löste ihren Fahrschein und war heilfroh, noch einen Sitzplatz ergattert zu haben. Gerade wollte sie ihre Börse in der Reisetasche verstauen, da bemerkte sie ihn. Er lag direkt unter ihrer Bank und sah sie mit hoffnungsvollem Blick an.

Natürlich musste sie ihr Schinkenbrot mit ihm teilen. Gierig schlang er es hinunter, als hätte er tagelang nichts Essbares bekommen. An der Endstation stieg er mit ihr aus. Fasziniert von der Schönheit der Insel blieb Carla staunend vor jedem Haus stehen. Die weißen Häuser, die blauen Kuppeln der Kirchen, dazu der azurblaue Himmel und das Meer drängten sie geradezu unentwegt zu fotografieren. Dabei war sie nicht für einen Moment allein. Sokrates, wie sie den kleinen, klugen Hund getauft hatte, verfolgte sie auf Schritt und Tritt. Carla ließ ihn gewähren, sprach mit ihm, teilte ihm ihre grenzenlose Bewunderung über die Schönheit der Insel mit. Er sah sie verständnisvoll an, so als wäre er der Besitzer dieser herrlichen Insel. Zwischen ihnen war es Liebe auf den ersten Blick, vom ersten Moment ihrer Begegnung. Auf Santorin sah Carla sehr viele abgemagerte, herrenlose Katzen und auch einige Hunde. Alle waren in einem bedauernswerten Zustand. Die meisten lagen apathisch in der heißen Sonne. Zwei Filme hatte Carla gerade abgeknipst, als sie erschrocken bemerkte, dass sie sich eiligst zum Bus begeben müsste, damit das Schiff nicht ohne sie ablegte. Sokrates lag auf der Rückfahrt wieder unter ihrem Sitz. Hin und wieder sah er mit zufriedenem Blick zu ihr auf, bevor er den Kopf auf ihre Füße legte.

Das Schiff stand schon abfahrbereit an der Anlegestelle. Eiligen Schrittes steuerte Carla auf den Steg zu, als sie ein kleines Mädchen sah, das bitterlich weinend auf und ab lief und etwas zu suchen schien. Der kleine Hund lief sofort zu ihm und leckte ihm mit der Zunge die Tränen von der Wange. Das Mädchen umarmte ihn überglücklich, außer sich vor Freude. Es band ihm ein Seil um den Hals und lief ganz schnell, barfuß, mit ihm davon. Sokrates schaute noch einmal sehnsüchtig zurück. Carla wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.

Ein Jahr war vergangen und Carla reiste erneut auf die Insel Kreta. Santorin hatte sie so fasziniert, dass sie beschlossen hatte, eine Woche Urlaub dort zu verbringen. Das Erlebnis mit Sokrates hatte sie nicht vergessen und sie ertappte sich dabei, wie sie unentwegt nach ihm Ausschau hielt. Bei jedem Hundegebell drehte sie sich um, in der Hoffnung, ihm noch einmal zu begegnen, aber er war nirgendwo sichtbar. Bei einem Spaziergang in der näheren Umgebung hörte sie vermehrt Hundegebell und sie folgte dem Geräusch. Mühsam entzifferte sie die griechischen Schriftzüge über dem Eingang und glaubte „Tierstation“ aus den Buchstaben zu lesen.

Sie wusste nicht warum, aber sie ging hinein – eine innere Stimme zwang sie dazu. Carla ging von Zwinger zu Zwinger, in der Hoffnung, den kleinen, grau-schwarzen Mischlingshund So­krates zu finden. Er hatte sie so sehr beeindruckt, dass sie sehr häufig an ihn denken musste. Der letzte Zwinger wirkte leer und sie wollte schon gehen, da sah sie, zusammengekrümmt in der hintersten Ecke, ein kleines Bündel mit grau-schwarzem Fell liegen. Leise rief sie: „Sokrates!“ Elektrisiert spitzte der kleine Hund die Ohren, kam an das Gitter gelaufen und stieß ein lautes Freudengeheul aus. Es war Sokrates und es war so, als hätte er schon lange auf sie gewartet. Von der Frau, einer Deutschen, die das Haus leitete, erfuhr Carla, dass er schon ein Jahr dort war. Ein kleines Mädchen hatte ihn nicht behalten dürfen, die Eltern waren zu arm und konnten ihn nicht ernähren.
Es kostete noch einige Zeit und Mühe, bis alle Formalitäten erledigt waren. Auch musste Carla mit Sokrates zum Tierarzt, sonst hätte sie ihn nicht außer Landes bringen dürfen. Am Ende lag der kleine Hund auf der Rückreise mit einem schönen, neuen Halsband und einer Leine unter ihrem Sitz und sie schipperten Heraklion entgegen. Jetzt wusste Carla, warum der Wunsch, noch einmal nach Santorin zu wollen, so übermächtig gewesen war.

Es wurden vierzehn wundervolle Jahre mit Sokrates, von denen sie nicht einen Tag, nein, nicht eine Stunde hätte missen wollen.

 

Marlis David

 

 

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