Totes Feld (Teil6)
Oliver
Es war, als erwachte ich schlagartig aus tiefem Schlaf. Ich war benommen und benötigte einen Moment, um zu begreifen, dass ich im Shop der Tankstelle stand. Was machte ich hier? Ich erinnerte mich nicht, mich ins Auto gesetzt zu haben und hergefahren zu sein. Doch das hatte ich getan, denn vor dem Shop stand mein Wagen. Dass ich mich nicht erinnerte, erschreckte mich. Was stimmte nicht mit mir?
Angestrengt kramte ich in meinen Erinnerungen. Das Letzte, was ich vor mir sah, war, dass ich die Leinwand aus dem Garten ins Atelier getragen und dort den benutzten Pinsel entdeckt hatte, der eigentlich hätte wie neu sein müssen. Dann war es um mich herum dunkel geworden.
Und nun stand ich hier. Nur eine Armlänge vom Getränkekühlschrank entfernt, in dem Mineralwasser, Limonaden und Alkohol nebeneinander aufgereiht standen wie alte Freunde.
War ich etwa deshalb hier?
Wegen des Alkohols?
Ich sah zu den Bierflaschen. Sie schienen mir zuzuzwinkern und mit süßer Stimme meinen Namen zu rufen. Etwas weiter entfernt entdeckte ich einen vermutlich verschlossenen Schrank, darin standen Gin, Wodka, Rum und Whiskey. Noch besser.
Verflucht, was war los mit mir, woher kam das plötzliche Verlangen? Seit Monaten hatte ich kein einziges Mal ernsthaft ans Trinken gedacht, und jetzt stand ich hier und würde mir am liebsten auf der Stelle einen genehmigen. Es verwirrte mich, ich verstand es nicht. Meine Hände waren eiskalt.
Es musste ja nichts Hartes sein. Nichts aus dem Schrank.
Ich schloss die Augen. Du-wirst-jetzt-nicht-schwach-du-bleibst-standhaft-du-bist-stärker, hämmerte es in meinem Kopf.
Ein Bier wäre auch nicht übel. Es wäre sogar ziemlich gut. Und ein einziges Bier machte ja schließlich nichts.
Scheiße-Scheiße-Scheiße!
Ich öffnete die Glasschiebetür. Nach kurzem Zögern nahm ich zwei Sechserträger heraus. Einen klemmte ich mir unter den Arm und schnappte mir mit der freien Hand drei Weinflaschen, deren Hälse sich wie von allein zwischen meinen Fingern einklemmten. Einige Handgriffe saßen für immer. Die Tür glitt von alleine zu.
Ich ging zur Kasse. Der Kassierer scannte die Getränke. Ich fühlte mich komplett unwohl und wäre am liebsten aus dem Shop gestürmt. Es kam mir vor, als schrumpfte ich auf wenige Zentimeter.
„Habe ich getankt?“, fragte ich und deutete auf meinen Wagen. Der Kassierer sah mich verwundert an und schüttelte den Kopf. Ich nahm noch ein Einwegfeuerzeug und zahlte bar. Dann verließ ich den Shop und sah zu, dass ich so schnell wie möglich von hier verschwand.
Kurz darauf stoppte ich an einer roten Ampel. Ich zog eine Flasche aus den Sechserträgern und öffnete sie mit dem Feuerzeug. Ich wusste, dass ich es nicht tun durfte, doch ich war zu schwach. Außerdem war es eine Ausnahme und es war bloß lumpiges Bier. Weniger als fünf Prozent Alkohol, also kein Grund zur Sorge. Ich trank einen Schluck. Mein Gehirn erinnerte sich schlagartig und führte Freudentänze auf. Das Zeug schmeckte göttlich. Ich setzte die Flasche erneut an und leerte sie in einem Zug.
Die Ampel sprang auf Grün und mich packte der Gedanke an ein weiteres Bier. Obwohl mir klar war, dass ich einen schweren Fehler beging, öffnete ich noch während des Anfahrens die nächste Flasche.
Junge
Der Junge bewegte sich auf Händen und Knien. Er kam nur langsam voran. Obwohl er den gebrochenen Fuß vom Boden fernhielt, war der Schmerz kaum auszuhalten.
Der Junge hielt die Schere zwischen den Zähnen. Die Kiefermuskeln zitterten. Er durfte die Schere nicht verlieren, sie war die einzige Waffe, um sich zu verteidigen.
Die Arme des Jungen riss an den Knien und Handflächen. Die Sonne schien ein Loch in seinen Rücken zu brennen. Die Handgelenke und Schultern taten weh. Der Junge schluchzte unentwegt. Er hatte kaum noch Zuversicht. Immer wieder sah er zu dem Baum. Mit jedem Meter, dem er den Baum näherkam, schien dieser zurückzuweichen. Der Junge dachte bei sich, dass der Baum nicht wollte, dass er ihn erreichte.
Der Junge wusste, dass es den Tod gab und dieser das Ende des Lebens bedeutete. Der Junge hatte bereits tote Menschen gesehen. Sie waren entweder alt oder krank gewesen und niemand hatte sich gewundert, dass sie gestorben waren. Doch ein totes Kind hatte der Junge noch nicht gesehen. Er hatte gedacht, Kinder sterben nicht. Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht würde er sterben. Als Kind. Schon bald.
Der Junge war so voll von Verzweiflung und leer an Hoffnung, dass er sich fragte, ob der Tod nicht etwas Gutes war.
Oliver
Als ich den Wagen vor dem Haus abstellte, pustete ich durch. Alles war gut gegangen, ich hatte keinen Unfall verursacht und die Polizei hatte mich nicht angehalten. In einem der Sechserträger auf dem Beifahrersitz steckte noch eine ungeöffnete Bierflasche, die geleerten lagen im Fußraum. Ich konnte kaum glauben, dass ich während der kurzen Fahrt fünf Flaschen weggezogen hatte.
Was hatte ich mir nur gedacht? Ich hatte mir vorgemacht, das Trinken endgültig hinter mir gelassen zu haben, dabei wusste ich genau, dass es immer bei mir bleiben würde und ich meine Dämonen bis zum letzten Atemzug in Schach halten müsste. Hatte ich etwa aus den Rückfällen der Vergangenheit nichts gelernt?
Ich wischte mir übers Gesicht und seufzte schwer. Die Leinwand war schuld. Sie hatte mich durcheinandergebracht und mich schwach werden lassen. Doch weshalb? Dass die Leinwand sich möglicherweise von alleine bemalte, war seltsam, doch nichts, was mich aus der Bahn warf. Aber vielleicht hatte es das auch gar nicht. Vielleicht hatte ich bloß einen Vorwand gesucht, endlich wieder zur Flasche zu greifen. Denn natürlich war nicht die Leinwand schuld, sondern ich, Punkt. Und fünf Bier mussten nicht bedeuten, dass ich dem Alkohol wieder verfiel. Es musste nicht die Rückkehr sein zu Abstürzen, Kontrollverlusten und Filmrissen. Nicht, wenn ich mich zusammenriss. Es lag allein an mir, ob ich zukünftig standhaft blieb oder das ganze Theater von vorn begann.
Ich stieg aus dem Wagen und wäre fast zu Boden gegangen. Mein inneres System war durcheinander und mein Körper rebellierte. Der Alkohol tanzte in meinem Kopf. Ich brauchte eine Mütze Schlaf und anschließend eine Dusche, dann wäre ich wieder ganz der Alte.
Ich schnappte mir die leeren Flaschen und entsorgte sie im Mülleimer. Anschließend ging ich ins Haus. Im Atelier stellte ich fest, dass die Leinwand während meines Ausflugs zur Tankstelle weiter bemalt worden war. Striche, Kreise und weitere Formen in Schwarz, Weiß und Grau. Die geöffneten Farbtuben und ein benutzter Pinsel lagen auf dem Boden, ganz so, als sei die Person, die damit gearbeitet hatte, fluchtartig aufgebrochen.
Ich erschrak nicht mal, als ich all das sah. Es war mir gleichgültig. Alles war mir gleichgültig. Scheiß‘ auf das hier, auf die sich selbst bemalende Leinwand und die Malerei überhaupt und auf mich sowieso. Ich war kein Maler und würde es mit dem Pinsel nie zu Ruhm und Erfolg bringen. Die Wahrheit war, dass ich überhaupt nicht malen konnte, das Handwerk nicht beherrschte, niemals einen Lehrer gehabt hatte und bestenfalls unteres Mittelmaß auf die Leinwand klatschte, das keinem seriösen Kritiker auch nur ein einziges Wort wert war. Und die Wahrheit war außerdem, dass ich ein alkoholkranker Mittvierziger war, der zwar ein gut gefülltes Bankkonto hatte, aber keinen Plan für sein weiteres Leben. Ich hatte keine Beziehung, keinen Freundeskreis, keinen Job, keine Ziele. Ich war ein Niemand, den kein Schwein vermissen würde, wenn er nicht mehr da wäre. Vielleicht war jetzt ein guter Zeitpunkt, mit allem Schluss zu machen. Im Ernst. Vermutlich war dies genau die Gemütslage, in der sich so viele befunden hatten, die ohne Hoffnung gewesen waren und sich von der Welt verabschiedet hatten.
Doch Stopp, ich hatte noch Hoffnung. Denn schließlich hatte ich drei Flaschen Wein und sieben Flaschen Bier im Wagen.
Scheiße, es hätte schlimmer sein können.
Junge
Endlich erreichte der Junge den Baum. Er robbte in den Schatten. Er war mit den Kräften am Ende und atmete in flachen Stößen. Die Sonne trommelte auf ihn ein. Am gebrochenen Fuß schienen wilde Hunde zu nagen. An den Unterarmen, den Ellenbogen und weiteren Stellen seines Körpers war das Fleisch offen. Die Lippen waren rau und trocken. Der Junge hatte den schlimmsten Durst seines Lebens.
Er ließ die Schere aus dem Mund fallen und rollte sich auf die Seite. Die Welt um ihn herum tanzte. Am Himmel hing eine einsame Wolke. Sie war weiß und frisch wie gefallener Schnee, der das Gesicht kühlte wie nichts anderes. Und der Junge erkannte darin das Gesicht der Mutter. Die Mutter schaute sorgenvoll und ernst zugleich.
Genau so hatte sie an jenem Tag geschaut, als sie ihn mit leichten Schlägen auf die Wangen ins Bewusstsein zurückholte. Der Junge lag auf dem Boden. Der Kochlöffel, den er im Begriff war für die Mutter zu schnitzen, und das Schnitzermesser lagen neben ihm. Der Kopf des Jungen brummte. Er benötigte einen Augenblick, um die Mutter zu erkennen. Sie hatte sich über ihn gebeugt. Eines ihrer Augen war geschwollen und zwischen Nase und Mund klebte geronnenes Blut. War sie etwa gestürzt?
Die Erinnerung kehrte zurück. Der Mann mit dem Gehstock aus Kirschbaum. Plötzlich hatte er vor dem Jungen gestanden. Hatte erst nach dem Vater gefragt, anschließend nach der Mutter. Dann war es um den Jungen herum dunkel geworden.
„Wer war das?“, fragte der Junge.
„Ein böser Mann“, sagte die Mutter. Aus ihrem heilen Auge tropfte eine Träne auf den Mund des Jungen. Der Junge wischte sie nicht fort. Mit der Träne auf seiner Haut fühlte er sich der Mutter ganz nah.
„Warum ist er böse?“
„Er hat mir den Himmel auf Erden versprochen“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Ein besseres Leben, wenn ich ihm gefalle. Jetzt will er die Kleine. Aber ich gebe sie ihm nicht. Er soll zur Hölle fahren, und die ganze Bande mit ihm.“
„Wo ist sie?“, fragte der Junge ängstlich.
„Großmutter hat sich mit ihr im Mais versteckt. Sie waren raus, bevor er im Haus war.“
Der Junge fragte sich, wie die Großmutter das Haus verlassen konnte, ohne dass der Mann es mitbekommen hatte, doch er sprach es nicht aus.
Die Mutter lächelte dünn, doch ihr Blick blieb hart und ernst. „Vater kommt bald zurück. Er war lange fort. Er sorgt für uns. Zu seiner Rückkehr wollen wir ihm mit einer guten Mahlzeit danken.“
Der Junge hatte nichts von dem verstanden, was die Mutter über den fremden Mann und das Baby gesagt hatte, doch nie zuvor hatte er sie so durcheinander erlebt.
Oliver
Ich hatte erst vier weitere Flaschen Bier und anderthalb Flasche Wein intus und stürzte bereits ab wie ein jugendlicher Anfänger. Während meiner Hochzeit als Trinker hätte ich über eine solche Menge nur gelacht, doch mittlerweile war ich nicht mehr an Alkohol gewöhnt.
Ich war im Atelier und stand schwankend vor der Leinwand. Vor dieser verfluchten Leinwand, die mich nach Strich und Faden verarschte. Weil all dies in Wirklichkeit nicht passierte. Es gab keine Farben und keine Formen, sondern allein eine unschuldig weiße Leinwand. Das, was ich auf der Leinwand sah, sah niemand sonst. Niemand bemalte sie. Meine Geister spielten ein Spiel mit mir und lachten mich aus. Hahaha, Olli, hahaha! Verlor ich etwa den Verstand? Hatte ich mir im Laufe der vergangenen Jahre zu viele Gehirnzellen weggesoffen?
Auf dem Fußboden lagen die benutzten Pinsel und angebrochenen Tuben. Wieso lag das Zeug dort, wenn die Scheiß-Leinwand in Wirklichkeit nicht bemalt war? Das alles passte nicht zusammen.
Eine plötzliche Wut überkam mich. Ich nahm die Leinwand und schleuderte sie gegen die Wand. Zwei Leisten brachen. Dann verpasste ich der Staffelei einen Tritt. Sie kippte um. Ich ebenfalls.
„Du kannst nicht malen“, jammerte ich auf dem Rücken liegend und stellte trotz meines Pegels fest, dass ich anfing, mir selbst leid zu tun. So wie es früher häufig der Fall gewesen war, wenn ich stark angetrunken, aber noch nicht völlig hinüber gewesen war. „Sieh dich doch nur mal an, du bist nichts und kannst nichts, nicht mal trockenbleiben kannst du.“
Doch, das konnte ich. Und zwar ab morgen. Für heute hatte ich noch Bier und Wein und beides musste weg. Ab morgen würde ich für den Rest meines Lebens keinen Tropfen mehr anrühren. Schwur.
Junge
Die Sonne war gewandert und der Junge lag nicht länger im Schatten. Die Hitze war gewaltig, doch während der Nacht würde es kalt sein und der Junge trug nichts weiter am Leib als das Hemd. Er wusste, dass er hier nicht bleiben konnte. Auch wenn er nur noch wenig Kraft in sich hatte und nicht gehen konnte, musste er sich Schutz suchen. Eine warme Höhle oder ein vergessenes Versteck, das so sicher und verborgen war wie jenes, in dem er sich drei Tage und drei Nächte vor den bösen Männern verkrochen hatte. Doch wie sollte er all das schaffen?
Der Junge sagte sich, dass er einmal noch zum Riesen werden musste. Einmal noch musste er groß sein wie ein Baum und unverwundbar wie ein Stein, stark wie ein Ochse und schnell wie ein Hase. Vielleicht schaffte er es zu einem Ort, an dem gute Menschen lebten, die ihn aufnahmen und sich um ihn kümmerten wie um den eigenen Sohn.
Der Junge nahm seinen ganzen Mut und die restliche Kraft zusammen. Er schaffte es auf die Knie, hielt sich am Baumstamm fest und setzte den gesunden Fuß auf. Es musste ihm gelingen, auf nur einem Bein hochzukommen. Wenn er doch bloß nicht so erschöpft wäre.
Der Baumstamm war zu gewaltig, als dass der Junge ihn umklammern konnte. Also suchte er für die Hände nach dem besten Halt. Er durfte auf keinen Fall abrutschen.
Unter größter Anstrengung drückte der Junge sich nach oben. Am liebsten hätte er die Verzweiflung und Schmerzen herausgeschrien, doch dann würden ihn die Wölfe hören. Als er stand, lehnte er sich gegen den Baum. Ihm war schwindelig. Was würde er alles geben für einen Becher Wasser.
Nach einiger Zeit fühlte er sich bereit, sich auf den Weg zu machen. Doch wohin sollte er gehen, welche Richtung war die richtige? Zum See konnte er nicht zurück, so sehr das Wasser auch lockte. Das Waldstück war weit entfernt für nur einen gesunden Fuß, doch dem Jungen blieb keine andere Wahl. Nur im Wald war er geschützt, nur dort konnte er sich ein Versteck suchen, nur dort würde er auf Menschen treffen, die Holz fällten oder jagten. Und Wasser würde er dort auch finden. Im Wald gab es immer Wasser.
Auf einem Bein hüpfte der Junge los. Nach einigen Sprüngen bemerkte er, dass er die Schere zurückgelassen hatte.
Oliver
Ich trank Wein und Bier im Wechsel und wurde immer betrunkener. Seltsamerweise gefiel mir der Zustand nicht, was mich allerdings nicht davon abhielt, weiterzutrinken.
Draußen war es hell, als ich auf dem Sofa einschlief, und dunkel, als ich wieder aufwachte. Ich musste dringend zur Toilette. Ich war noch nicht wieder nüchtern und in meinem Kopf herrschte Unordnung. Was hatte ich mir bloß gedacht? Ächzend stand ich auf. Mein Rücken schmerzte, auch das noch. Selbst schuld.
Auf dem Weg zum Klo sah ich, dass im Atelier das Licht eingeschaltet war. Auch das Flurlicht leuchtete. Wieso hatte ich vorhin die Lampen angeknipst, obwohl es hell gewesen war? Weil du gesoffen hattest, antwortete ich mir selbst.
Mit leicht unsicheren Schritten ging ich zur Toilette und erleichterte mich. Anschließen rieb ich mein Gesicht mit kaltem Wasser ab und hoffte, dass es mir helfen würde, wieder klar zu denken. Was war ich bloß für ein Idiot. Ich ging in die Küche und nahm eine Cola aus dem Kühlschrank, um den Durst zu löschen und das Wummern in meinem Kopf zu bändigen. Ich fühlte mich komplett scheiße.
Das Licht im Atelier, fiel es mir ein. Ich kippte den Rest Cola runter, dann ging ich rüber ins Atelier, um das Licht auszuschalten. Doch noch bevor ich dazu kam, sah ich, dass mitten im Raum die Staffelei mit der aufgestellten Leinwand stand. Es verging ein Moment, bis ich begriff, dass das nicht möglich sein konnte. Denn eigentlich müsste beides auf dem Boden liegen. Oder hatte ich es wieder aufgehoben, ohne dass ich mich daran erinnerte?
„Alter, komm‘ klar!“, murmelte ich und trat vor die Staffelei. Irgendwie behagte mir das Ganze nicht. Ich nahm die Leinwand und drehte sie um. Die gebrochenen Leisten waren so ineinander verkeilt, dass sie geradeso hielten. Erst jetzt entdeckte ich den unbenutzten Pinsel auf der Ablage der Staffelei. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was hier vor sich ging, doch ich begriff die Botschaft.
Das Bild sollte fertiggestellt werden.
Fragte sich bloß, von wem.
Junge
Der Junge schaffte keine zwanzig Sprünge, dann kippte er um. Er versuchte, den kaputten Fuß vom Boden fernzuhalten, doch es gelang ihm nicht. Der Fuß schlug auf und der Schmerz schoss dem Jungen bis ins Hirn. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er wimmerte. Was hatte er verbrochen, wieso wurde er so gequält?
Nach einiger Zeit war der Schmerz abgeklungen. Der Junge versuchte gar nicht erst aufzustehen. Er war zu erschöpft. In seinem Kopf herrschte Leere. Er schloss die Augen und dämmerte weg. Er spürte die Ruhe, die sich in ihm ausbreitete wie ein Laken. Alles war friedvoll. Es gab keine Zeit mehr. Er schien nicht länger in seinem Körper zu stecken.
Fühlte sich so das Ende des Lebens an?
Oliver
Am nächsten Morgen hatte ich Kopfschmerzen und einen schalen Geschmack im Mund. Und große Wut und viel Scham in meinem Inneren. Das gestern hätte mir nicht passieren dürfen. Es musste unbedingt ein Ausrutscher bleiben. Ich warf zwei Ibuprofen ein und putzte lange meine Zähne, dann ging ich laufen, um den verdammten Alkohol auszuschwitzen und mich zu bestrafen. Ich würde so lange laufen, bis ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte und mich vor Erschöpfung erbrechen würde.
Ich hielt besser durch, als ich erwartet hatte. Mein Körper hatte alles ziemlich gut weggesteckt. Nach knapp zwanzig Kilometern beschloss ich, dass es reichte. Die Lauf-App zeigte mir fünfzehn Minuten bis zuhause an und ich erhöhte noch mal das Tempo, um mir den Rest zu geben. Meine Oberschenkel brannten und ich hatte Seitenstriche, doch es gab keinen Grund nachzugeben, im Gegenteil. Ich lief und lief und hatte keine Augen für das, was links und rechts von mir geschah, war wie im Tunnel. Bis ich vor dem toten Feld stoppte.
Keuchend stand ich da, nach vorne gebeugt, die Hände auf den Knien, und sah auf das leblose Stück Land. Was machte ich hier?
„Wieso bin ich hierher gelaufen, ohne darüber nachzudenken?“, murmelte ich. Ich richtete mich auf. „Warum fühle ich mich von dir angezogen, tote Erde? Fast glaube ich, du willst was von mir. Möchtest du etwa dein Geheimnis mit mir teilen?“
Das Feld antwortete nicht und ich erhielt auch sonst keine Reaktion. Natürlich nicht. Doch ich spürte, dass es irgendeine Verbindung zwischen dem Feld und mir gab.
Ich kannte sie bloß noch nicht.
Andreas Richter