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29. September 2022

Wisst Ihr noch, damals?

Kurzgeschichte von Marlis David

Wir haben es tatsächlich geschafft. Kaum zu glauben, aber es ist so. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft, speziell was der Gesetzgeber und die Bürokraten, die Medien und die Informationsgesellschaft uns täglich vorbeten und verbieten, müssten wir alle, die in den Vierzigern bis Anfang der Achtziger aufgewachsen sind, längst tot sein.

Unsere Kinderbetten waren mit bleihaltigen Farben bemalt und Formaldehyd sickerte aus jeder Pore. Ganz zu schweigen vom Tapetenleim, dem Kleber des Linoleums oder den PVC-Dämpfen des Stragula. Wasserfeste Filzstifte hatten Ausdünstungen, die benebelten, und wer erinnert sich noch an den leicht salzigen Geschmack des Tintenkillers?

Steckdosen, Medizinflaschen, Schranktüren und Schubladen waren noch nicht kindersicher. Messer, Schere, Gabel und Licht wurden uns zwar verboten, aber meistens mussten wir uns erst einmal daran verletzen, um es zu glauben.

Unsere Fahrräder, Roller und Rollschuhe fuhren wir ohne Schützer und Helme. Die Risiken, per Anhalter in den nächsten Ort zu fahren, waren uns unbekannt! Zum Thema Auto erinnere ich mich weder an einen Sicherheitsgurt, noch an Airbags, ABS oder ähnliche Sicherheitsvorrichtungen in irgendeinem Fahrzeug. Man saß zwar hinten, aber an einem heißen Sommertag gab es nichts Schöneres, als seinen Kopf aus dem Fenster (man konnte es damals noch komplett herunterkurbeln) des fahrenden Autos zu stecken und sich den Fahrtwind ins Gesicht blasen zu lassen, dass man kaum noch Luft bekam.

Wasser haben wir direkt aus dem Gartenschlauch getrunken und nicht aus einer Flasche. Wahnsinn! Wir aßen fettige Schmalznudeln und frischgebackenes Brot mit fingerdicker Butter drauf, dazu gab es überzuckerte Limonaden oder künstlich gefärbte Brause. Fett geworden sind wir deswegen nie, weil wir immer draußen waren.

Wir haben zu fünft aus einer Flasche getrunken und es ist tatsächlich keiner daran gestorben. Wir haben stunden- und tagelang an Seifenkisten oder ähnlichen Gefährten geschraubt, die wir aus rostigem und splittrigem Holz kon­struierten. Dann sind wir die Hügel damit runtergebrettert, nur um festzustellen, dass wir die Bremsen vergessen hatten. Nachdem wir ein paar Mal in der Böschung gelandet waren, lernten wir auch dieses Problem zu lösen. Wir gingen in der Frühe raus und spielten den ganzen Tag, höchstens unterbrochen von Essenspausen, und kamen erst wieder rein, als es dunkel wurde und man den Ball beim Völkerball nicht mehr erkennen konnte.

Wir waren auch nie zu erreichen, hatten keine Handys!

Wenn es regnete, spielten wir mit unseren Freunden Monopoly oder Mensch ärgere Dich nicht, Mühle oder Dame und bauten für Matchbox-Autos ganze Städte auf.

Wir hatten weder Playstation noch Nintendo, X-Box oder Videospiele, keine PCs, keine 50 Fernsehkanäle oder Surround-Anlagen. Ins Kino zu gehen, war ein Ereignis, für das man sich herausputzte und das einem vor Vorfreude den Magen kribbeln ließ. Es gab noch Vorfilme, die immer eine Überraschung waren, weil keiner wusste, was zu erwarten war, und wenn zufällig ein Donald Duck- oder Mickymaus-Film dabei war, hatte man das ganz große Los gezogen. Wir hatten Freunde! Wir gingen raus und haben uns diese Freunde gesucht.

Wir Mädchen haben Völkerball und die Jungen Fußball gespielt, mit allem, was sich kicken ließ, und wenn jemand einen echten Lederball hatte, war er der King und durfte immer mitspielen, egal wie schlecht er war. Um im Verein mitspielen zu dürfen, gab es Aufnahmeprüfungen, die nicht jeder bestand. Wer es nicht schaffte, lernte mit der Enttäuschung umzugehen. Wir spielten Völkerball bis zum Umfallen und manchmal tat es weh, wenn man abgeworfen wurde.

Wir sind von Bäumen und Mauern gestürzt, haben uns geschnitten und aufgeschürft, Knochen gebrochen und Zähne verletzt. Wir hatten Unfälle. Es waren einfach Unfälle, an denen wir Schuld waren. Es gab niemanden, den man dafür verantwortlich machen und vielleicht sogar vor den Kadi hätte zerren können. Unsere Knie und Knöchel waren von Frühjahr bis Herbst lädiert und ein Schienbein ohne blaue Flecke gab es nicht.

Wenn wir uns an Brennnesseln brannten oder uns eine Mücke gestochen hatte, haben wir entweder auf die Stelle gespuckt, Nachbars Hund darüber lecken lassen oder drauf gepinkelt. Geholfen hat alles.

Wir haben gestritten und gerauft, uns gegenseitig grün und blau geprügelt und gelernt, damit zu leben und darüber hinwegzukommen. Wir haben auch Spiele erfunden mit Stöcken und Bällen, haben mit Ästen gefochten und Würmer gegessen. Und obwohl es uns immer wieder prophezeit wurde, haben wir kein Auge ausgestochen und die Würmer haben auch nicht in uns überlebt. Wir sind zu einem Freund oder einer Freundin geradelt, haben an der Tür geläutet und sind dort geblieben, nur um mit ihnen zu reden.

Manche Schüler waren nicht so schlau wie andere, also haben sie eine Klasse wiederholt. Sie sind nicht durchgefallen, sondern wurden von den Lehrern einfach zurückgestuft. Konsequenzen waren immer zu erwarten, wenn wir großen Mist
gebaut hatten.

Der Gedanke, dass ein Elternteil uns raushauen würde, wenn wir mit dem Gesetz in Konflikt geraten wären, war undenkbar. Im Gegenteil, die Eltern stellten sich auf die Seite des Gesetzes. Machen Sie sich das einmal klar!

Unsere Generation hat einige der größten Künstler und Erfinder hervorgebracht. Die vergangenen 50 Jahre waren eine wahre Explosion an Innovationen und Ideen. Wir hatten Freiheit und Zwang, Erfolg und Misserfolg, Verantwortung und Konsequenz. Und wir haben gelernt damit umzugehen.

Erinnere Dich daran, wie Du aufgewachsen bist und Du wirst sehen, was unseren Kindern heute fehlt. Eltern drückten das eine oder andere Mal ein Auge zu, anstatt ihre Kinder mit übergroßer Vorsicht zu erdrücken. Unsere Eltern trauten uns zu die richtigen Entscheidungen zu treffen. Meistens klappte es. Die paar Male, die nicht glückten, zählen wir zu unseren Lebenserfahrungen.

Erzähle dieses allen weiter, die Du kennst, die sich auch zu dieser glücklichen Generation zählen dürfen, als Kinder noch Kinder waren und noch keine Anwälte mit Schadenersatzklagen und Regierungen mit kinderfeindlicher Politik unseren Alltag bestimmten.

Im Nachhinein stelle ich fest: Es war eine wunderschöne Kindheit und ich bin glücklich, sie erlebt zu haben.

 

Marlis David

 

 

Marlis David,
geboren 1940 in Hamburg, war nach kaufmännischer Ausbildung in mehreren großen Firmen tätig. Im Ruhestand widmet sie sich ihrem Hobby, dem Schreiben. Es bedeutet für sie Glück und Berufung. Im Jahr 2011 veröffentlichte sie zwei Bücher mit Kurzgeschichten. Auch in verschiedenen Anthologien sind Kurzgeschichten von ihr zu finden. Zu Weihnachten konnte man Geschichten von ihr im Radio hören.