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27. Februar 2020

Clärchen

Kurzgeschichte von Marlis David

„Heute scheint mir der Weg zu deinem Grab verdammt lang, Clärchen. Vielleicht hätte ich doch die Grabstelle bei Kapelle 1 nehmen sollen … man wird ja nicht jünger!

Was hätte werden können, wenn du nicht …? Verdammt! Warum hast du mich allein gelassen?! Wünschte mir so sehr, dass der Wind deine Asche in die Sonne getragen hätte, die du so geliebt hast, aber du wolltest ja unbedingt auf diesem Friedhof beerdigt werden. Deinen Willen musstest du ja immer durchsetzen. Das war eine schlechte Charaktereigenschaft von dir, die ich gar nicht ausstehen konnte!“

Verstohlen, fast ängstlich sah er sich jetzt nach allen Seiten um. Es war keine Menschenseele in der Nähe. Es wäre ihm peinlich, sollten die Leute ihn gar für einen Spinner oder Psychopaten halten, der mit seiner toten Frau Zwiegespräche führt.

„Weißt du noch, wie wir immer gescherzt haben, wer wohl zuerst gehen muss und ich dir antwortete: Nun ja, ich ziehe auf jeden Fall nach Sylt! Du hast amüsiert gelächelt. Wie ich dein Lächeln geliebt habe, es fehlt mir so sehr, Clärchen.“

Etwas außer Atem ruhte er sich jetzt erst einmal einen Augenblick auf einer Bank aus, bevor er weiterging.

„Ach, sieh mal, da rechts liegt Frau Wehmüller, die ist auf den Tag genau ein Jahr vor dir verstorben … seltsam, ihr Mann war doch dein Chorleiter. Hast mir nie davon erzählt! Ein Engel aus weißem Marmor sitzt auf ihrem Grab … vielleicht sollte ich auch für dich … ach was, du bekommst ein aufgeschlagenes Buch, passt besser!

Heute zum ersten Todestag habe ich deine Lieblingsblumen gewählt, war in vier Geschäften, im letzten hatten sie den Feldstrauß mit dem Mohn. War ich aber heilfroh! Ich glaube du hättest mich ermahnt, hätte ich einen anderen Strauß gebracht.

Jetzt noch einmal rechts, Clärchen, dann bin ich bei dir!

Wer ist das denn? Der muss sich ja wohl im Grab versehen haben, oder? Jetzt heult der auch noch! Aber auf deiner Beerdigung war der nicht. Aber das ist doch … ja, es ist der Wehmüller, dein Chorleiter. Warum steht der nicht am Grab seiner Frau? Clärchen, wieso?

Wieso weint der an deinem Grab? Du hast doch nicht etwa … nein, das kann nicht sein. Du hast mir so oft deine Liebe geschworen. Wo warst du denn jedesmal nach der Chorprobe? Es waren immer zwei Stunden, in denen du angeblich mit der Anne noch einen Schoppen getrunken hast. Wo warst du da?

Nein Clärchen, das glaube ich nicht … nicht du! Er geht jetzt zum Grab seiner Frau und ich gehe jetzt zu ihm und frage ihn ganz direkt … ich muss es wissen!“

Nachdem er sich wieder gefasst hatte, kam er mit ganz langsamen Schritten wieder an Claras Grab und setzte seine Unterhaltung im Flüsterton mit ihr fort: „Er hat gesagt, er hat gesagt … er hat die Liebe erlebt … gibt es Größeres? Der Feldblumenstrauß mit Mohn, der schon da stand, war von ihm. Clara, wie ich dich dafür verachte!

Adieu Clara, für immer, ich ziehe jetzt nach Sylt. Wie konntest du meine Liebe so mit Füßen treten? Wie konntest du so herzlos sein! Ab jetzt kannst du dich mit deinem Chorleiter unterhalten.“

Dann drehte er sich abrupt um, seine Blicke suchten Herrn Wehmüller, der noch am Grab seiner Frau stand. Er trat ganz dicht an ihn heran: „Ja, teurer Freund, du hast sehr recht: Die Welt ist ganz erbärmlich schlecht, ein jeder Mensch ein Bösewicht, nur du und ich natürlich nicht!“

Ohne einen Gruß ging er forschen Schrittes davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Schon von weitem sah er seinen Bus kommen. Er eilte ihm entgegen, dabei bemerkte er plötzlich Anna, die Freundin seiner Frau. Sie stieg gerade aus dem Bus und eilte schnellen Schrittes auf den Friedhofseingang zu. Ob sie wohl Clara einen Besuch abstatten wird, dachte er gerade noch, als er Herrn Wehmüller am Eingang entdeckte. Mit ausgestreckten Armen lief er Anna entgegen, umarmte und küsste sie leidenschaftlich auf den Mund.

„So einer ist das also, wenn die Eine verstirbt, kommt die Nächste, bis er sie alle durch hat“, murmelte er ganz leise vor sich hin. „Siehst du das, Clärchen, und dafür warst du dir nicht zu schade? Du warst nur eine Nummer, eine von vielen!“
Er konnte direkt in das strahlende Gesicht von Anna sehen, als der Bus sich langsam in Bewegung setzte und gemächlich an dem verliebten Pärchen vorbeifuhr. Anna bemerkt ihn nicht, sie hat nur Augen für Alexander Wehmüller. Die Eine geht, die Andere kommt und immer erlebt der wieder die einmalige, große Liebe, dachte er verbittert. Alles Lüge, alles Lüge und alle Frauen fallen darauf herein … wie schändlich ist das denn?, fragte er sich erbost. Er beschloss, dem ein Ende zu bereiten.

Es fiel ihm ein, dass er ihm ja schon am Grabe seiner Frau gesagt hatte, dass jeder Mensch ein Bösewicht sei, nun sollte er es auch ganz erbärmlich zu spüren bekommen.

„Jeden Dienstag ist Chorprobe, da werde ich ihm doch mal einen Besuch abstatten, da ich ja die Musik so sehr liebe …“ Er erinnerte, dass Clärchen erzählt hatte, die Proben würden immer in der zweiten Etage stattfinden.

Am Mittwoch darauf konnte man in der örtlichen Presse einen kleinen Artikel lesen: „Der hiesige Chorleiter A. Wehmüller ist auf tragische Weise bei einem Unfall ums Leben gekommen. Er stürzte nach einer Chorprobe so unglücklich die Treppe vom zweiten Stock hinunter, dass er sich das Genick brach. Wir bedauern es unendlich, diesen beliebten Musiklehrer verloren zu haben.“

Marlis David