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13. Oktober 2020

Kindertage

Zwischen Ebbe und Flut

Kurzgeschichte von Marlis David

Zwei Jahre später
Es sind oft die uralten Zeiten, die mich wieder träumen lassen.

Bei dem Gedanken, mit Mutter eine Reise in ihre Vergangenheit anzutreten, wurde es mir koddrig. Neugierig war ich schon auf das Baby von Tante Maria und Onkel Kurt, aber über Ostern hatte ich keine Lust. Ich war widerspenstig, unausstehlich im Abteil des D-Zuges auf der Fahrt nach Düsseldorf.

Mutter hatte ihre Plage mit mir, auch mit sich selbst. Sie war in den Wechseljahren und wie immer nervlich am Ende, schweißnass, da ich der Frau gegenüber vors Schienbein getreten hatte. Bevor sie mich zur Ordnung rufen konnte, war ich blitzschnell durch die Schiebetür auf den Gang des Wagens geflüchtet. Etwas später bemerkte ich, wie Mutter dabei war, die mitgebrachten Margarinestullen auszuwickeln. Das zwang mich zurück ins Abteil. Für mich dauerte die Fahrt eine Ewigkeit, gefühlte zehn Stunden, dabei waren es höchstens vier, glaube ich.

Zum ersten Mal war ich in der Stadt meiner Ahnen, die mir durch Erzählungen wohl bekannt war, aber gesehen hatte ich sie noch nie. Onkel Kurt, Mutters Bruder, war schon ein paar Mal bei uns gewesen. Es war aufregend, wenn er von seinen langen Fahrten ins Ausland erzählte. Gleich nach dem Krieg hatte er eine Arbeit als Fernfahrer gefunden.

Das Schicksal hatte es mit Onkel Kurt nicht gut gemeint. Die Trauer war bestimmt sehr groß, dass seine kleine Tochter im Löschbassin ertrank und seine erste Frau mit einem anderen Mann im Bett lag, als er aus dem Krieg heimkehrte.
Diesen Onkel wollten wir nun besuchen. Maria, seine zweite Frau, die ihm den Stammhalter geboren hatte, kannten wir noch nicht. Mit der Straßenbahn fuhren wir Ostern 1952 zu deren Wohnung. Nach dem Krieg konnte man froh sein, überhaupt eine Wohnung bekommen zu haben. Es war sehr beengt, aber sie hatten es sich mit bescheidenen Mitteln gemütlich gemacht. Jedoch mit diesem winzigen, schreienden Bündel Mensch konnte ich überhaupt nichts anfangen. Mich nervte das ewige Plärren, dafür konnte ich keinerlei Verständnis aufbringen. Für mich stand für alle Zeiten fest, dass mir so ein halsloses Ungeheuer niemals ins Haus käme. Ich entwickelte eine abgrundtiefe Aversion gegen meinen Cousin.

Tante Maria, eine fromme, liebe Frau, hatte den Mut, mich alleine mit ihrem kleinen Liebling im Kinderwagen an die frische Luft zu schicken. Das kleine, ahnungslose Ungeheuer mochte mich auch nicht, denn sofort ging das Geschrei in den höchsten Tönen wieder los. Gewaltbereit schüttelte und rüttelte ich dermaßen an dem Kinderwagen, dass er beinahe umgefallen wäre. Das Geschrei wurde naturgemäß noch lauter und das Babygesicht lief feuerrot an. Ich fluchte wie ein Rohrspatz, bedachte das winzige Wesen mit bösen Schimpfworten.

Dann machte ich auf dem Absatz kehrt und wollte nur noch nach Hause. Kein Sterbenswörtchen habe ich von meinen Schandtaten erzählt. Scheinheilig beteuerte ich: „Ja, es war wunderschön!“

Onkel Kurt meinte zu Ostern, hinter und unter jedem Sessel, in jeder Ritze, Ostereier verstecken zu müssen. Fein herausgeputzt mit Faltenrock, weißen Kniestrümpfen und Lackschuhen stand ich da, rührte mich nicht vom Fleck, fand es saublöd, den ganzen Fußboden mit meinen neuen Sachen aufzuwischen. „Nun beweg‘ dich, der Osterhase hat überall was für dich versteckt!“ Als hätte ich den Rohrstock von Lehrer Fricke verschluckt, stand ich aufrecht da, den Blick geradeaus gerichtet. „Das ist mir zu kindisch, ich bin doch kein Kleinkind mehr!“, meuterte ich. Nun krochen drei Erwachsene, Onkel, Tante und Mutter, in jede Ecke, hinter jeden Sessel, durch die gesamte Wohnung – das fand ich toll. Mutter schämte sich für ihr missratenes Kind.

Geliebt haben sie mich nicht gerade, auch nicht wieder eingeladen. So konnte ich die frühe Weiterentwicklung von Cousin Klaus nicht miterleben. Dieses Erlebnis mit elf Jahren hat sich tief in mein Gedächtnis gegraben und machte mich später doch sehr betroffen.

Fünf Jahre später durfte ich die Geschwister meines verstorbenen Vaters kennenlernen. Bis dahin hatte jeder damit zu tun, sein Leben nach dem Krieg wieder in geregelte Bahnen zu lenken.

Tante Lene und Onkel Josef hatten es inzwischen zu einem gutgehenden Friseurgeschäft gebracht. Sie konnten sich sogar eine Haushälterin, ein „Mädchen für alles“, leisten.

Tante Lene war Vaters Schwester und ich hatte durch ihren vier Seiten langen Brief aus dem Jahr 1943 an meine Mutter eine bestimmte Vorstellung von ihr. Mutter bewahrte alles in einem schwarzen Ebenholzkästchen auf und ich war neugierig. Tante Lene beschrieb die Untreue ihres Mannes Josef in allen Einzelheiten. Sie klagte ihr Leid und ihren übergroßen Kummer, den sie nicht mehr ertragen könne. Von dem Tod ihres Bruders 1943, meines Vaters, schrieb sie kein Wort.

Sie war meine Patentante und schenkte mir zur Konfirmation meine erste Uhr. Eine einfache, abgenutzte, gebrauchte Armbanduhr. Es sollte mein einziges Geschenk bleiben. Zu der Zeit ging das Friseurgeschäft schon sehr gut. Erst da erfuhr ich, dass sie meine Patentante ist.

Nun saßen wir wieder im Zug nach Düsseldorf. Jetzt älter, trat ich keinem mehr vor das Schienbein. Die Zeit verging rasant durch intensives Lesen. Große Wiedersehensfreude, große überschwängliche Begrüßung. Auch Onkel Willi, Vaters Bruder, und seine Frau waren da. Sie wohnten seit einem Jahr in der Dachgeschosswohnung des Hauses. Mein Vater war mir nur durch Bilder vertraut, es gab keinerlei Erinnerung an ihn. Doch Onkel Willi hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit ihm. Mir wurde heiß und kalt, es war überwältigend.

Für meine Mutter war die Aufregung zu viel; ihre Tabletten hatte sie zu Hause vergessen und sie konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Am nächsten Abend nahm sie eine Schlaftablette von Onkel Josef. In der Nacht bekam sie heftigen Schüttelfrost, dazu sehr hohes Fieber. Der Arzt konnte die Ursache nicht finden. Am Morgen ging das Fieber nicht zurück. Nun bildeten sich große Wasserblasen auf ihren Handflächen, an den Fußsohlen und auf ihrem Hinterteil. Sie konnte nicht mehr greifen, nicht laufen und nicht sitzen. Der Arzt überwies sie ins Krankenhaus. Mutter war total fertig, ganz unglücklich, unsagbar traurig.

Meine Tante Lene meinte einen Tag später: „So, du bist alt genug, du machst die Hausarbeit – abwaschen, staubsaugen, staubwischen, die Betten und was sonst so anfällt. Ich muss ins Geschäft, bin um 18.30 Uhr zurück.“ Trude, ihre Haushaltshilfe, nahm sie mit, die sollte im Geschäft helfen.

Ich machte alles, wie mir befohlen war, nach bestem Wissen. Gegen Abend kam sie aus dem Geschäft, sank stöhnend in den Sessel. Doch nach ein paar Minuten sprang sie auf, holte blütenweiße Handschuhe aus dem Schrank, zog sie an und wischte über die Bilder, die Kommode, das Telefon und andere Möbel: „Das nennst du sauber? Was hast du denn für ein Gefühl von Sauberkeit?“ Sie ging ins Schlafzimmer, sah auf ihre Betten und schlug die Hände zusammen. Sie eilte in den Flur, ergriff einen Krückstock und schnell zurück ins Schlafzimmer. Sie zerrte an der Bettdecke, bis die so lag, wie sie es für richtig hielt und dann strich sie mit dem Krückstock darüber: „Das muss eine Linie sein, ohne jede Erhebung. Man muss mit dem Stock ganz gerade darüberstreichen können!“ Mit bösen Augen funkelte sie mich an: „Du taugst zu nichts. Aus dir wird nie etwas werden, das kann ich dir heute schon sagen. Nichts wirst du erreichen!“

Am nächsten Tag fuhren wir ins Krankenhaus, um Mutter zu besuchen. Bei jedem Besuch war sie in einer anderen Farbe angestrichen. Für die Ärzte war sie ein Versuchsobjekt; die Ursache für das Fieber und die Blasen konnten sie einfach nicht finden.

„Aus deiner Tochter wird niemals etwas werden, das kann ich dir heute schon sagen!“, fuhr Tante Lene sie an. Mutter sah mich an: „Was hast Du verbrochen?“ Wütende Blicke trafen meine Tante: „Sie hat mir verboten, das Haus zu verlassen. Ich durfte mir nicht einmal die Königs­allee ansehen!“ Herrisch sah die Tante mir nach, als ich das Krankenzimmer verließ.

Nach sechs Wochen wurde Mutter an die Uniklinik Hamburg überwiesen und dort erhielt sie endlich, nach sechs weiteren Monaten, in denen sie alle Farbschattierungen auskosten durfte, eine Diagnose.

Sie hatte eine Medikamentenallergie und reagierte auf Brom, ein chemisches Element, das in der Schlaftablette enthalten war.

Einige Jahre später verstarb Tante Lene, ohne dass wir uns noch einmal gesehen hatten. Onkel Josef heiratete Trude, mit der er schon lange ein Verhältnis hatte. Meinen Lebensweg durfte sie nicht mehr erleben, sonst hätte ich sie Lügen strafen müssen.

 

 

Marlis David

 

 

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