„Talk about“ – das Konzept für sexuelle Bildungsarbeit
Große Gefühle, Unsicherheiten, Scham oder Normalitätsdruck
„Talk about“ ist ein sexualpädagogisches Angebot für Schüler*innen, geflüchtete Jugendliche in Wohngruppen, Lehrkräfte und Pädagog*innen sowie Eltern und Sorgeberechtigte. Sexuelle Bildung hilft, verantwortungsvoll mit sich und anderen umzugehen, Grenzen zu erkennen und eigene Entscheidungen treffen zu können. B.A. Kindheitspädagogin Marieke Köhler und Dipl.-Pädagoge Henrik Schröder von Jungenarbeit Hamburg e. V. stellen das interessante Projekt vor und beantworten wichtige Fragen.
Duvenstedter Kreisel:
Woher stammt die Projektidee „Talk about“?
Marieke Köhler:
In unserer pädagogischen Praxis ist uns aufgefallen, dass sexualpädagogische Themen viel zu selten Raum und Aufmerksamkeit gefunden haben, sodass wir selbst ein Angebot machen wollten. Ein Angebot, das nicht nur die körperlichen Themen behandelt, sondern eine Erweiterung um Rollenbilder und Gefühle ist, weil diese Aspekte untrennbar dazugehören.
Duvenstedter Kreisel:
Was ist die Zielgruppe von „Talk about“?
Marieke Köhler:
Unsere Zielgruppe sind vor allem Schüler*innen der Klassen sechs bis zwölf. Außerdem bieten wir Fortbildungen für Lehr- und Fachkräfte an, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Zusätzlich machen wir seit Jahren Angebote für geflüchtete Erwachsene. Für diese Arbeit haben wir 2017 im Bundeswettbewerb „Zusammenleben Hand in Hand – Kommunen gestalten“ einen Preis gewonnen.
Duvenstedter Kreisel:
Welche Bedeutung hat das Thema Liebe und Sexualität im Leben eines Jugendlichen?
Marieke Köhler:
Besonders in der Pubertät passiert auf der psychosexuellen Entwicklungsebene sehr viel. Jugendliche befinden sich in der Entwicklung zwischen der kindlichen Sexualität hin zur Erwachsenensexualität. Körperlich, hormonell als auch psychisch laufen eine Vielzahl an Entwicklungen ab, die zu Verunsicherungen und der Frage nach der eigenen Identität führen. Erste Beziehungserfahrungen werden gemacht, die über Freund*innenschaften hinausgehen. Die Herkunftsfamilie verliert als Bezug an Bedeutung und die Peergroup samt neuer Beziehungserfahrungen gewinnt an Relevanz. Darüber hinaus sind Jugendliche und junge Erwachsenen heute auch durch soziale Medien durchgehend mit Körpern, Beziehungsidealen und sexuellen Darstellungen konfrontiert. Diese Omnipräsenz führt zu Verunsicherungen und Neugier zugleich.
Duvenstedter Kreisel:
Welches Ziel verfolgt das Projekt?
Henrik Schröder:
Wir fördern die Kinder und Jugendlichen in ihrer Selbstbestimmung, -verantwortung und ihrem Bewusstsein und stärken Sprachfähigkeiten. Dabei unterstützen wir die Identitätsentwicklung der Schüler*innen und geben ihnen das Gefühl, dass alle Fragen willkommen sind und jede sexuelle, geschlechtliche und amouröse Lebensweise angenommen wird. Unser Ziel ist dazu beizutragen, dass durch diversitätssensible sexuelle Bildung einerseits die Vielfältigkeit von Schüler*innen gesehen und anerkannt wird. Zugleich verstehen wir die Arbeit auch als Prävention gegen Ausgrenzung und/oder Grenzverletzungen.
Duvenstedter Kreisel:
Ist „Talk about“ eine Vertiefung schulintern geleisteter Sexualerziehung?
Henrik Schröder:
Es ist eher eine Ergänzung als Vertiefung. Anders als bei der Sexualerziehung, die eher meint, dass die Erwachsenen „erziehen“ und somit die Heranwachsenden beeinflussen, geht es in der Bildung eher darum, dass sich das Individuum auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Informationen bildet – und das ein Leben lang. Um diesen Prozess zu begleiten, orientieren wir uns an Fragen und Themen der Schüler*innen. Gleichzeitig bieten wir den Teilnehmenden aber auch Themen an, die eventuell neu oder weniger präsent für sie sind. Diese bewusste Entscheidung treffen wir aufgrund der Annahme, dass in einer patriarchalen und heteronormativ geprägten Gesellschaft gewisse Themen, die dieses System stützen, ihren festen Platz haben. Andere Themen, die dieses System unterlaufen, werden hingegen nicht mit in den Diskurs Sexualität einbezogen. Wir arbeiten dabei geschlechterreflektiert und kultursensibel. Diversität spielt eine große Rolle in unseren Veranstaltungen.
Duvenstedter Kreisel:
Wie werden die Gesprächssitzungen abgehalten?
Henrik Schröder:
Wir schaffen eine lockerere Atmosphäre in einem Stuhlkreis. Es gibt Gesprächs- und Umgangsregeln, damit sich alle Schüler*innen sicher fühlen und ein geschützter Raum geschaffen werden kann, in dem es möglich ist, Fragen und Themen zu besprechen, die vielleicht mit einer näheren Bezugsperson, wie den Lehrkräften, nicht möglich wäre, der sich vom normalen Regelunterricht unterscheidet. Außerdem gibt es immer die Möglichkeit für die Schülerschaft, Gebrauch von ihrem Recht auf Freiwilligkeit zu machen und bei bestimmten Methoden nicht mitzumachen und/oder bei Themen den Raum zu verlassen.
Duvenstedter Kreisel:
Sind Eltern bei Gesprächsrunden anwesend?
Marieke Köhler:
Nein. Wir schaffen einen geschützten Rahmen für die Peergroup. Sollten Eltern oder andere Bezugspersonen zuvor oder danach Gesprächsbedarf haben, können sie über die Lehrkräfte um Klärung bitten. Wir sind nicht die Ansprechpersonen für Erziehungsberechtigte. Haben Eltern Gesprächsbedarf, wenden sie sich an die Lehrkräfte, die dann mit uns ins Gespräch gehen. Sehr gern würden wir mehr Elternarbeit machen, daher bieten wir an, dass wir bei Bedarf für Elternabende zur Verfügung stehen. Schließlich sind Eltern vielerorts die Vertrauten, die von Kindern und Jugendlichen um Rat gebeten werden.
Duvenstedter Kreisel:
Werden die Geschlechter bei Gesprächsbedarf getrennt?
Marieke Köhler:
Ja, wir bieten immer an, die Gruppe zu trennen, nicht zwangsläufig nach Geschlechtern, sondern auch nach Interessensgruppen. Es zeichnet sich aber ab, dass Schüler*innen selbst oft nach einem geschützteren Rahmen innerhalb ihrer geschlechtlichen Zuordnung suchen.
Wir versuchen sowohl gemeinsame Teile einzubauen, damit die Barriere des gemeinsamen Gesprächs abgebaut wird und ein gemeinsamer Austausch stattfinden kann, als auch einen Teil anzubieten, der in getrennten Gruppen stattfindet, in der spezifische Fragen, oft auch geschlechtsspezifisch, ihren Raum finden.
Duvenstedter Kreisel:
Welche Chance sehen Erziehungsberechtigte in diesem Konzept?
Marieke Köhler:
Manchen Eltern fällt es gar nicht so leicht, mit ihren Kindern über Körperlichkeit und Sexualität zu sprechen. Es kann durchaus ungewohnt sein, sein Kind überhaupt als sexuelles Wesen zu betrachten. Manche Eltern fragen sich zudem, ob das Sprechen über Sexualität Kinder überfordert oder sie sogar zu „Erwachsenensexualität“ anregt. Doch bei einem kindgerechten Umgang mit dem Thema sind diese Sorgen unbegründet.
Duvenstedter Kreisel:
Wer moderiert die Gesprächsrunden?
Henrik Schröder:
Wir arbeiten zu zweit oder zu viert. Wir sind ausgebildete Fachkräfte mit jahrelanger Erfahrung in der sozialen Gruppenarbeit und speziell in der sexuellen Bildung, der Gewaltprävention und haben zum Beispiel eine Zusatzfortbildung zu Gewaltschutz nach § 8a SGB VIII.
Duvenstedter Kreisel:
Warum ist die Phase der Pubertät für Eltern oft eine herausfordernde und anstrengende Zeit?
Henrik Schröder:
Die Pubertät kann sowohl für die Pubertierenden als auch für deren soziales Umfeld eine Herausforderung sein. Durch eine hormonelle Veränderung des Körpers können sich Gefühle und Bedürfnisse ändern, was wiederum Einfluss auf die sozialen Beziehungen haben kann.
Duvenstedter Kreisel:
Warum glauben Sie, ist die Förderung des Selbstwertgefühls und Selbstwusstseins im Bereich menschlicher Beziehungen so wichtig?
Marieke Köhler:
Damit Menschen in Beziehungen selbstbestimmt und selbstverantwortlich handeln können. Damit sie ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen kennen und diese zu artikulieren lernen. Außerdem ist ein gesundes Selbstwertgefühl wichtig, um Beziehungen auf Augenhöhe führen zu können.
Duvenstedter Kreisel:
Eine gesunde Beziehung ist etwas Wertvolles. Sie darf nicht von sexualisierter Gewalt betroffen sein. Wie wird dieses Thema in der sexuellen Bildung vermittelt?
Marieke Köhler:
Um sexualisierter Gewalt präventiv entgegenzutreten, ist das Vertrauen in die eigenen Gefühle als auch der Umgang damit grundlegend. Dazu zählen auch Körperwissen, sowie Wissen um die persönlichen Rechte. Das sind unter anderem auch Themen der sexuellen Bildung.
Duvenstedter Kreisel:
Wie gehen Sie mit Sorgen der Eltern um?
Marieke Köhler:
Um Sorgen und dem Verantwortungsbewusstsein der Eltern angemessen zu begegnen, sehen wir eine Information über die Bedeutung und die Inhalte sexueller Bildung als grundlegend. Zu betonen ist dabei, dass sexuelle Bildung stets auf Freiwilligkeit beruht und auf das Alter und den Entwicklungsstand abgestimmt ist. Wir nehmen Unsicherheiten und Befürchtungen der Erziehungsberechtigten ernst und bemühen uns stets, Sicherheit zu schaffen. Auch deswegen haben wir uns mit anderen Akteur*innen in der sexuellen Bildung zusammengeschlossen und eine Informationswebsite erstellt, auf der wir auf häufig gestellte Fragen eingehen. Zu finden ist diese unter: http://elternfragen.org/.
Duvenstedter Kreisel:
Wie kooperieren Sie mit den Lehrkräften innerhalb des Projektes?
Henrik Schröder:
Der Austausch mit den Lehrkräften ist Voraussetzung dafür, dass wir mit den Schüler*innen zusammenarbeiten. Wir kooperieren sehr eng mit den Lehrkräften, die dann die Aufgabe übernehmen, die Schüler*innen sowie deren Sorgeberechtigte über die Veranstaltung zu informieren. Schon im Vorfeld bieten wir Raum, in dem Lehrkräfte und Schüler*innen besondere Bedarfe und Wünsche innerhalb der Veranstaltungen äußern können. An den Projekten mit den Schüler*innen nehmen die Lehrkräfte jedoch nicht teil, um den Teilnehmenden einen geschützten und vertrauensvollen Raum zu bieten. Im Anschluss an die Veranstaltungen werden die Lehrkräfte über die Inhalte informiert. Bei der Rückmeldung werden aber nur anonymisierte Informationen weitergegeben, um den Teilnehmenden einen vertraulichen Raum gewährleisten zu können.
Duvenstedter Kreisel:
Ist „Talk about“ gut vernetzt? Gibt es Kooperationspartner, die das Vorhaben unterstützten?
Henrik Schröder:
Durch die Teilnahme in diversen Arbeitskreisen befinden wir uns im Austausch mit anderen Einrichtungen und Organisationen. Über eine langjährige Zusammenarbeit mit einzelnen Schulen sowie der Sozialbehörde als auch der Schulbehörde ist zudem ein festes Netzwerk an Kooperationen entstanden. Über dieses Netzwerk bieten wir regelmäßig Veranstaltungen an und schaffen unterschiedlichen Akteur*innen die Möglichkeit, sich durch Diskussionen und kritischen Austausch mit uns inhaltlich weiterzuentwickeln.
Duvenstedter Kreisel:
Vielen Dank für das informative Gespräch.
Das Interview führte
Anja Junghans-Demtröder