Kleiner Engel, großer Sieg
Kurzgeschichte von Marlis David
Als unübertroffene Schönheit faszinierte er jeden. Kaum ein Mensch konnte sich ihm entziehen oder gar achtlos vorüber gehen, ohne ihn zu bemerken. Der muskulöse Körperbau wirkte gut proportioniert, richtig kraftstrotzend. Er war sich dessen auch sehr bewusst. Gern dokumentierte er ganz spielerisch seine Stärke. Aber bei ihm sah es niemals bedrohlich aus.
Mit Freude und Wohlgefallen drehten sich alle, besonders die Damen, nach ihm um. Missgünstige Blicke trafen Lotte, die immer mit stolzem Blick und hoch erhobenen Hauptes neben ihm ging. Eigentlich war er zu groß für sie, denn Lotte war sehr klein, und das wurde durch ihn noch extremer sichtbar. Neugierig wurde sie von Kopf bis Fuß taxiert. Auch ohne Worte sprachen die Blicke eine eindeutige Sprache.
Zu übersehen war es nicht, dass ihre Gestalt zu klein und ihr Umfang ausufernd voluminös war. Ihr einst wohlproportionierter Busen ruhte erschöpft auf dem darunterliegenden Bauch, der ohne Übergang einer Taille zu sehen war. Ein Leben lang trug sie ihr Haar glatt nach hinten gekämmt, streng zum Knoten gebunden. Es war noch tiefschwarz, ohne eine einzige silbrig glänzende Strähne. Auf ihr Alter angesprochen neigte sie stolz ihren Kopf, damit ein jeder dieses vermeintliche Wunder betrachten konnte.
Heute war für Lotte ein ganz wichtiger Tag, ihr Leben sollte sich komplett verändern. Ein wenig aufgeregt überlegte Lotte die Wahl ihrer Garderobe. Unschlüssig zog sie ein Kleidungsstück nach dem anderen hervor, ohne sich entscheiden zu können. Wie so oft schlüpfte sie in das getigerte Seidenkleid; darin empfand sie ein besonderes Wohlgefühl. Ein selbstsicheres Auftreten war enorm wichtig für den heutigen Tag. Der große schwarze Strohhut mit der breiten Krempe machte sie um Zentimeter kleiner, aber ohne diesen Hut würde Lotte nie auf die Straße gehen.
Ihr süffisantes Lächeln war auch nach zwei Stunden Wartezeit in dieser verdammten Werbeagentur nicht aus ihrem Gesicht gewichen. Sie saß kerzengerade, einer festgewachsenen Statue gleich, auf ihrem Stuhl. Ihr Begleiter stand ganz still daneben. Keiner der Anwesenden im Warteraum würdigte Lotte eines Blickes. Fasziniert fixierten sie nur ihn. Er jedoch genoss sichtlich gelangweilt ihre ganze Aufmerksamkeit.
Ein sommersprossiges, rothaariges Mädchen, von der Mutter fein herausgeputzt, zeigte mit dem Finger auf ihn und platzte heraus: „Da! Mutti, sieh nur, der hat einen Engel auf seinem Fell!“ Die Mutter schlug ihr verärgert auf die Hand: „Man zeigt nicht mit dem Finger, Liane. Sei still und setz dich brav hin!“
Die Wartenden in dem Raum, alle beseelt von dem einen Wunsch, es möge endlich der lang gehegte Traum vom Werbestar oder als Model in Erfüllung gehen, sahen sofort wieder neugierig zu ihm hinüber.
Die kleine, sommersprossige Liane blickte Lotte durchdringend an, bevor sie ziemlich laut zu ihrer Mutter sagte: „Die dicke Tante da drüben kann doch gar kein Model werden, die passt ja in gar kein Kleid!“ Ihre Mutter zog sie auf ihren Stuhl und hielt ihr die Hand auf den Mund. Sie lächelte Lotte gequält an: „Entschuldigen Sie bitte, Kindermund, Sie wissen schon!“
Lotte saß immer noch einer Statue gleich wie versteinert da. Nur das Lächeln war jetzt aus ihrem Gesicht gewichen. Sie tat, als hätte sie nichts gehört. Ihr wunderschöner Begleiter sah sie jedoch mit großen, erstaunten Augen an.
Diese Mütter, die nicht davor zurückschrecken, ihre herausgeputzten Kleinen von einer Agentur zur anderen zu zerren, um den Erfolg nachzuholen, den sie nie im Leben gehabt haben, sind mir ein Gräuel, sinnierte Lotte gerade, als ihr Name aufgerufen wurde.
Hinter einem protzigen Schreibtisch saß, wohlgefällig eine Zigarre rauchend, ein in die Jahre gekommener Glatzkopf. Spöttisch lächelnd musterte er Lotte, bevor sein Blick auf ihn fiel. Er stand auf, kam um seinen Schreibtisch herum und betrachtete ihn von allen Seiten: „Der hat ja einen knienden, braunen, betenden Engel auf der Seite!“ Entzückt klopfte er sich auf die Schenkel: „Donnerwetter, das habe ich ja noch nie gesehen – bildschön! Was ist das für ein Hund?“
Lotte antwortete mit stolzgeschwellter Brust, den Mund ganz spitz geformt, wodurch ihre Falten auf der Oberlippe erst richtig zu sehen waren: „Ein Pointer, ein Vorstehhund, ein ganz besonders schönes Tier! Sehen Sie nur die braunen Tupfen auf dem weißen Fell. Aber das Besondere an ihm ist der Engel auf seiner linken Seite. Nein, das haben Sie sicher noch nie gesehen!“
Der glatzköpfige Dicke setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch, sah Lotte über seine halbe Brille von oben bis zu ihren Schnürschuhen abschätzend an, holte tief Luft und zischte durch die kaum geöffneten Lippen: „Nein, nein, der Hund ja, aber ohne Sie!“ Nervös klopfte er mit den Fingerspitzen auf seinen Schreibtisch.
„Den Hund könnte ich wunderbar für eine Werbekampagne verwenden, der wäre ein Knüller, aber bitte ohne Sie!“ Er griff zum Telefonhörer: „Fräulein Wurster, bitte kommen Sie sofort zu mir!“ Außer Atem eilte Fräulein Wurster zu ihm: „Ja, bitte, Sie haben nach mir gerufen?“
Der Dicke zeigte auf den Hund: „Wie heißt er denn überhaupt?“ Er sah Lotte streng über seine halbe Brille an. Lotte setzte sich kerzengerade hin, ihr Gesichtsausdruck wurde hart, richtig streng: „Er heißt Treff, aber Sie bekommen meinen Treff nur mit mir zusammen oder gar nicht!“
Fräulein Wurster prüfte mit fachmännischem Blick die Proportionen von Treff, blickte auf den betenden Engel, verdrehte die Augen, schlug begeistert die Hände zusammen und nickte dann zustimmend. „Woher haben Sie dieses bildschöne Tier?“
„Ich war im Krieg als Krankenschwester an der Front und als ich am Bahnsteig auf meinen Zug wartete, stand plötzlich dieser Hund neben mir. Im Gedränge bemerkte ich gar nicht, wie er mit mir in den Zug stieg. Im Abteil legte er sich vor meine Füße. Von diesem Moment an begleitet er mich. Ich habe überall herumgefragt, wem er gehören könnte – ohne Erfolg. So bin ich auf den Hund gekommen!“
Und dann hielt Lotte tatsächlich einen Werbevertrag in Händen. Süffisant lächelnd verließ sie das Büro. Der Name ihres Hundes stand an erster Stelle, aber das hatte für sie keinerlei Bedeutung. Der Traum vom Werbestar war für sie in Erfüllung gegangen.
Die hässliche, kleine, rundliche Lotte mit ihrem Treff, der eine Riesenfleischwurst im Maul trägt, war bald in jeder Werbesendung präsent.
Der braune, kniende, betende Engel in seinem Fell erfüllte hervorragend seinen Zweck. Denn auf Werbeplakaten und an den Litfasssäulen stand in großen roten Buchstaben:
Was für ein himmlisches Vergnügen.
Marlis David
Marlis David,
geboren 1940 in Hamburg, war nach kaufmännischer Ausbildung in mehreren großen Firmen tätig. Im Ruhestand widmet sie sich ihrem Hobby, dem Schreiben. Es bedeutet für sie Glück und Berufung. Im Jahr 2011 veröffentlichte sie zwei Bücher mit Kurzgeschichten. Auch in verschiedenen Anthologien sind Kurzgeschichten von ihr zu finden. Zu Weihnachten konnte man Geschichten von ihr im Radio hören.