Heiligabend
der Hoffnung
Werner Hinrichsen, sechzig Jahre alt, frühpensionierter Lehrer aus Hamburg-Altona fürchtete sich vor Weihnachten. Besonders der Gedanke an Heiligabend machte ihm zu schaffen. Er war allein, furchtbar allein! Die Festtage sind Notstand für Singles, das wusste Werner, eigentlich ein Familienmensch, allzu gut. Einsamkeit hatte er bei Menschen, die allein lebten, stets bedauert – und sich so etwas nie gewünscht. Oft hatte er sich ausgemalt, wie schrecklich Alleinsein in der Zeit der Liebe, der Freude, des Beisammenseins wäre.
Am Vormittag des 24. Dezember wurde ein Mann gesehen, der den Laubsängerweg in Richtung Altonaer Friedhof entlangschlurfte. Zusammengesunken, den Rücken so krumm, als würde er eine schwere Last tragen. Den grauen Filzhut hatte er tief ins Gesicht gezogen. Sein müder Blick suchte schweren Schritts den Pfad. Ja, da schien ein vom Schicksal gebeutelter, alter Mann des Weges zu ziehen. Mit der rechten Hand stützte er sich auf einen Stock. In der linken trug er einen Strauß Nelken. Weiße Nelken, die die Köpfe hängen ließen. Ausgelaugt, kraftlos waren die Blumen, wie die Hand, die sie hielten.
Wer mochte der alte Mann sein, der da an dem kalten, Schneeregen nassen Tag unterwegs war? Erst bei näherem Beobachten erkannte ein Nachbar Werner Hinrichsen.
„Die Trauer kommt, wenn man alleine ist,“ murmelte der Alte im Selbstgespräch und: „Manchmal verwandelt sie sich in Wut und Ohnmacht. Ich bin überrascht, wie weh sie mir tut, die Trauer. Ich bin überfordert, all die schlechten Gefühle auszuhalten!“
Und nach einer Weile seufzte er vernehmlich: „Wie komme ich aus dem Teufelskreis heraus? Wie nur? Trennung und Verlassenheit – der Schmerz ist groß!“
Werner Hinrichsen hatte den Friedhof erreicht, schwankte an den Gräbern vorbei, fiel an einem Stein auf die Knie. Gerda Hinrichsen stand eingemeißelt darauf. Er legte die Nelken rechts neben das Grab, senkte den Kopf noch tiefer und weinte.
Weinen ist der Wolkenbruch der Seele. Emotionen hatten den letzten Rest seiner Beherrschung überspült. Da brach etwas aus Werner Hinrichsen hervor: die Liebe zu seiner Frau, die Harmonie, das glückliche Leben mit ihr. Und der so plötzliche Unfalltod, der ihrem Leben brutal ein Ende gesetzt und ihn in Einsamkeit und Depression gestürzt hatte.
Es war vor acht Monaten geschehen und Werner fürchtete sich vor der leeren Wohnstube ohne Tannenbaum, ohne Gerda. Ohne ihr Lächeln und die Liebkosungen. Wie sollte es denn jetzt weitergehen? Oh ja, ihm war die Lebenslust abhandengekommen. Im Teufelskreis schien er gefährlich zu rotieren!
Mühsam richtete er sich auf. „Tschüs, Gerda! Ich glaube, schon bald werde ich folgen, um endlich wieder etwas glücklich zu sein – bei dir!“ Auf einmal war es, als hörte er aus dem Grab die Stimme seiner Frau: „Werner, mein Gott noch mal, reiß dich zusammen! Wo sind dein Optimismus, wo deine Stärke und dein Mut geblieben? Dafür habe ich dich stets bewundert. Mensch, Werner, was ist los mit dir?“
„Ach, Gerda, das Schicksal hat mich bestraft, du wurdest mir entrissen. Was soll ich denn noch hier?“, murmelte er über dem Grab. „Schäm dich, Werner, so hätte ich dich nie geheiratet!“
Hinrichsen schleppte sich vom Friedhof. Er wollte sich in sein Stammlokal begeben. Dort einsam seinen Kummer im Alkohol ertränken, sich einfach betrinken, um Heiligabend nichts Schlimmeres zu tun. Auf dem Weg dorthin wurde er von Passanten übersehen, von Jugendlichen angerempelt. Von der Welt ignoriert …
An einem Haus im Lüdersring verharrte er jäh. Stutzte, sah im Fenster einen geschmückten Tannenbaum mit Kerzen, die jedoch noch nicht leuchteten. Und dann hörte er Kinderstimmen, die sangen: „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit! Welt ging verloren, Christ ist geboren …“ So hell und fröhlich sangen sie, dass die Stimmen Werner Hinrichsen berührten, ans Herz gingen und sein Inneres durchfluteten.
Und als er die Kinder inbrünstig am Fenster singend sah, ging in ihm etwas Seltsames vor: Auf einmal hörte er sie wieder, die Stimme seiner Frau Gerda, das zweite Mal an diesem Tag: „Werner, ich bin böse auf dich! So niedergeschlagen, so schwach hätte ich dich nie geliebt!“ Und dann, wie seltsam auch, packte ihn etwas Starkes, Unwiderstehliches. Ein gänzlich anderes Gefühl, ein energiegeladenes, kochte gleichsam in ihm hoch.
Zielstrebig marschierte er heimwärts, zuvor aber hatte er in einem Geschäft ein Weihnachtsmannkostüm mit Kapuze, weißem Bart und einem Jutesack erworben. Er steckte noch etwas Geld ein, kaufte im Supermarkt Gebäck, Marzipanbrote, andere Süßigkeiten und Obst. Er hatte es mit einem Mal richtig eilig, dort hinzukommen, wo Obdachlose mit Schlafsäcken vor Schaufenstern lagen. Oder in Gruppen eng beisammensaßen, um sich zu wärmen, bewegungslos, gleich Pflanzen, die auf Sonnenlicht hofften. Wieder andere, von der Gesellschaft Ausgeschlossene, umarmten sich weinend. Ein jeder tröstete sich auf seine Weise durch den Heiligen Abend.
Werner Hinrichsen gesellte sich zu ihnen, teilte Geschenke aus, fand helfende Worte. Er kam mit ihnen ins Gespräch, hörte zu, vernahm ihre Geschichten, ihre Sorgen, ihre Träume, ihre vergrabenen Hoffnungen. Von Schicksalsschlägen erfuhr er, bisweilen herzzerreißender als seine eigenen!
Werner besuchte viele Plätze in der Stadt – bis ihm die Füße wehtaten, bis alle seine Geschenke verteilt waren. Es war kurz vor Mitternacht, als er St. Pauli erreichte. Zwar müde geworden, fühlte er sich zufrieden, leicht, wie Glück sich anfühlt. In der Mitte der Reeperbahn, gegenüber der Davidwache, saß ein Obdachloser. Einsam, der Kopf war ihm auf die Brust gefallen. Er schlief. In dem Hut, der auf seinen Beinen lag, hatten sich Schneeflocken gesammelt, doch kein einziges Geldstück, nicht die geringsten Almosen lagen darin.
Werner beugte sich herab, rüttelte den Obdachlosen wach und sagte: „Stehen Sie auf, wir gehen etwas essen.“ Der Mann hob seinen Kopf mit dem faltendurchzogenen Gesicht. Noch schlaftrunken und verdattert antwortete er: „Was? Essen? Willst du mich verarschen? Lass‘ mich schlafen!“ – „Nein, nein, es ist Heiligabend! Wir gehen etwas essen.“ – „Ach du liebe Zeit! Du bist ja der leibhaftige Weihnachtsmann. Welcher Engel hat dich denn geschickt?“ – „Meine Frau, die Selige, sie hat mich geschickt. Auf geht’s!“ – „Wenn du unbedingt einen ausgeben willst. Meinetwegen.“
Beide zogen los, die Reeperbahn hinunter, und fanden noch eine offene Kneipe. Werner zog die rote Zipfelmütze vom Kopf, trennte sich von seinem Wallebart und bestellte. Der Obdachlose nannte sich Jonny. Er verzehrte Currywurst mit Pommes. Ein kleiner Rülpser schloss das Mahl ab, zeigte, dass es ihm geschmeckt hatte.
„Satt?“, fragte Werner. „Nicht so ganz,“ flüsterte Jonny. Werner bestellte das Gleiche noch einmal. Nach einer Weile erfuhr er von Jonnys Abstieg in die Obdachlosigkeit. Durchaus keine ungewöhnliche Geschichte: Jobverlust, Alkohol, Scheidung, Sorgerechtsstreit, Geldsorgen, Kündigung der Wohnung – alles nun schon zwei Jahre her.
„Auch für mich wird die Sonne wieder scheinen!“, sagte Jonny, dabei hellte sich sein Gesicht auf. „Ganz gewiss, Weihnachtsmann. Ganz gewiss! Ich bin Klempner, man braucht mich. Im Frühjahr hab‘ ich einen Job und werd‘ mich aus der Scheiße rausarbeiten, das schwör ich dir!“ – „Ein Bier?“, fragte Werner. „Ein Wasser – gern. Und Dank für die Einladung, Weihnachtsmann.“
Sie saßen noch geraume Zeit in der Kneipe beisammen. Dann stand Jonny abrupt auf, als habe er einen wichtigen Termin wahrzunehmen. Über die Schulter rief er: „Weihnachtsmann, du hast mir echt Hoffnung gemacht – nochmals vielen Dank!“
Werner antwortete: „Ich habe zu danken – euch allen! Ihr habt mich aus einem verdammt schwarzen Loch geholt! Auch ich werd’s schaffen. Ein Heiligabend der Hoffnung, der hat geholfen!“
Jonny vernahm die Worte auf der Türschwelle, wunderte sich, ließ die Tür zufallen und verschwand.
Wolf-U. Cropp